Rechtspopulist*innen versuchen Europa umzustrukturien. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist dabei die Familienpolitik.
Die Europawahlen galten lange als Wahlen der zweiten Ordnung, mit geringer politischer Bedeutung. Im Jahr 2019 hat sich dieses Bild transformiert: Europaweit haben sich die Parteiensysteme gewandelt, populistische und rechtsradikale Parteien haben Einzug in die Parlamente erfahren und ihre Stimmenanteile sind gewachsen. Die Formierung neuer rechter Gruppierungen und Netzwerke gehört wohl heutzutage und in jüngster Vergangenheit eindeutig zu den signifikantesten Einflussfaktoren auf Kultur, Politik und Gesellschaft. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz unterscheidet dabei vier Ausformungen dieses Kulturessenzialismus und Kulturkommunitarismus: Ethnische Gemeinschaften, Kulturnationalismus, Fundamentalismus und Rechtspopulismus. Diese Gruppen, so Reckwitz weiter, stünden in der Spätmoderne in einem kulturellen Klassenkampf mit der neuen Mittelklasse, welche vor allem durch die Bildungsexpansion entstanden sei und links-liberale Werte vertrete. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stünde dabei die Valorisierung von Kultur – was ist bei dem vielfältigen Angebot an kulturellen Gütern von Belangen und was nicht? Und vor allem wer bestimmt was wertvoll ist und was nicht?
Verhandelt und gefochten wird an vielen Stellen um das Primat der Meinungshoheit. Ob im Bereich der Ernährung von bio, lokal und vegan, als Teil der Ökonomie von fair-trade, nachhaltiges Innovationsmanagement und Postwachstumsansätzen oder im Bereich der Identitätspolitiken zwischen Genderdebatten, LGTBQ+ und postkolonialen Ansätzen um Begriffe wie People of Colour und Critical Whiteness. Hinsichtlich politischer Dimensionen findet vor allem bezüglich der Familienpolitik eine starke Formierung und Einflussnahme durch die Kulturessenzialist*Innen und Kulturkommunitarist*Innnen statt . Als Beispiel kann hier der World Congress of Families [WCF] genannt werden – ein evangelikales us-amerikanisches Netzwerk, welches sich 1997 gründete und sich selbst als Bollwerk gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, gegen Pornografie und gegen Abtreibung betrachtet.
World Congress of Family: globale Lebensschützer*innenbewegung in Verona
Das Netzwerk operiert global und ist darum bemüht Einfluss auf die Legislative der verschiedenen Länder zu nehmen. So fanden bisher Kongresse unter anderem in Prag, Genf, Mexiko City, Warschau, Amsterdam, Madrid, Sydney, Salt Lake City, Tbilisi/Tiflis, Budapest und Chisinau/Kishinev statt. Auch wenn die 2014 in Moskau geplante Konferenz abgesagt wurde, so ist der Einfluss des Netzwerkes in Russland doch deutlich gemäß des Southern Poverty Law Centers [SPLC]. So führt das SPLC Yelena Mizulina als Teil des Planungskomitees des WCF Moskau an, eine russische Abgeordnete, welche sich nicht zuletzt federführend für das 2013 in der Duma verabschiedete, sogenannte russian gay propaganda law einsetzte, welches zum 'Schutz der Kinder' die Verbreitung von nicht-traditionellen Sexualbeziehungen unter Strafe setzt. Auch erwähnt vom SPLC ist Vladimir Yakunin als Mitglied des selben Planungskomitees – CEO der staatlichen russischen Bahngesellschaft. Mizulina und Yakunin sind sowohl beide im Netzwerk des WCF als auch auf den Sanktionslisten der USA, welche im Zuge des Ukraine-Konflikts verabschiedet wurden.
Im März 2019 fand der dreizehnte Kongress statt. Er ist die weltweit wichtigste Veranstaltung religiöser Rechter und konservativer Antifeminist*innen, die globale Speerspitze der Verteidiger*innen der „traditionellen Ehe und Familie“. Zu den geladenen Gästen zählten Politiker*innen der französischen Rassemblement National, wie der Front National inzwischen heißt, über Orbáns Fidesz bis zum Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani. Dass die Schirmherrschaft für den Weltkongress für Familien von der italienischen Regierung übernommen wurde, ist zwei Monate vor den Europäischen Wahlen im Mai kein Zufall. Denn Matteo Salvini, Innenminister und Parteichef der Lega, will ein europäisches Bündnis “Lega de Legas” schaffen, um alle EU-skeptischen, national-konservativen und rechtspopulistischen Bewegungen Europas zu einen und die Grenzen der EU zu schließen. Es ist eine Kampfansage an die bestehende Ordnung in der Union. Matteo Salvini und Luigi DiMaios Pläne für Europa setzen an zwei Hebelstellen an: Abgeordnete des rechten Lagers, die European National Front- Fraktion im EU-Parlament zu stärken und eine neue Anti-Gender Bewegung, von Rechtspopulist*innen, christlichen Fundamentalist*innen zu vereinen und sie zur größten Fraktion im EP zu machen. Die jüngsten Reibungen der italienischen und französischen Regierung sind wohl nicht unerheblich unter diesem Stern. Damit verdichten sich die Europawahlen zur Herausforderung für das politische System der EU. Auf der einen Seite muss die informelle große Koalition zwischen christdemokratisch-konservativer EVP und Sozialdemokraten (S&D), die traditionell die EU dominiert, zum ersten Mal um ihre Mehrheit im EP bangen. Das bisher fragmentierte EU-kritische Lager erklärt sich zum Ziel, bei den Europawahlen 2019 eine große rechtspopulistische Fraktion mit bis zu einem Drittel der Abgeordneten zu bilden. Mit dem Brexit werden die 19 britischen Abgeordneten wegfallen und die zweite Säule der EFDD, die 14 Abgeordneten der Fünf Sterne Bewegung, erhoffen sich durch einen Zuwachs ihres Sitzanteils im EP mehr eigenständig zu agieren.
Retraditionalisierung der Familienpolitik
In Italien hat sich diese gewünschte Mehrheit weitgehendst mit den italienischen Parlamentswahlen im März 2018 realisiert. Seit Juni 2018 bilden die rechtsextreme und europakritische Lega, unter Matteo Salvini mit der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung eine Regierungskoalition. Ihre Agenda umfasst neben einer restriktiven Immigrations- und Asylpolitik, die Stärkung „traditionell moralischer“ Werte im Recht (z.B. verfassungsrechtlichen Schutz traditioneller Ehe- und Familienvorstellungen), christlicher Identitätspolitik und versucht Abtreibungsrechte einzuschränken.
Diese antifeministische Kampfansage übersetzt sich bereits in die nationale Familienpolitik des rechts-konservativen und erz-katholischen Familienministers und ehemaligen EU-Abgeordneten Lorenzo Fontana in Italien. Dieser teilte kurz nach seiner Vereidigung in einem Zeitungsinterview, dass es aus seiner Sicht nach dem italienischen Gesetz keine „Regenbogenfamilien gebe“, obwohl in Italien 2016 ein Lebenspartnerschaftsgesetz eingeführt wurde. Seine Partei Lega macht Eliten, Ideologien und die Kräfte der globalisierten Ökonomie für die Zerstörung der Familie und der Nation verantwortlich. Im Zentrum der Agenda der regierungsbildenden Koalition steht die Konstruktion einer angemessenen Geschlechterordnung, die Verteidigung der traditionellen Familie als Basiseinheit der Gesellschaft und die Bewahrung patriotrischer Werte. Der Schulterschluss zwischen der rechtsextremen Lega und christlich-fundamentalistischen Gruppen sollte auf dem Weltkongress für Familien in Verona gelingen, eine katholisch geprägte Stadt, die einen rechts-konservativen Bürgermeister, Federico Sboarina der Partei Forza Italia stellt und wiederkehrender Tagungsort der rechtsradikalen, neofaschischstischen Forza Nouva ist. Als bekennender Abtreibungsgegner und Kritiker der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und der Rechte von LSBTIQ-Communities sieht Fontana, das Zusammenkommen von christlichen Fundamentalist*innen im Rahmen des Weltfamilien Kongresses in Verona nicht als beunruhigend, sondern als Gelegenheit, für die rechtspopulistische Szene ihre Allianzen mit christlichen Fundamentalist*innen/Traditionalist*innen zu stärken. Neue Plattformen für die Propagierung ihrer europa-feindlichen Kampagne „Die Europäisten gegen die wahren Europäer“ zu etablieren. Mit dem so genannten ‘Lebensschutz’ sollen fundamentalistische christliche Gruppen an die geladenen Parteien gebunden werden, um eine breite Anhänger*innen- und Wähler*innenschaft für die Europa-Wahlen zu mobilisieren. Das Ziel sei es nach Angaben eines Interviews von Fontana für die Zeitung Corriere della Sera, “gemeinsame Programmpunkte für die EU-Wahl“ zu erarbeiten. Fontana ist unter anderem auch für die Allianzen der Partei mit der russischen Regierung, den europäischen rechtsextremen oder neofaschistischen Gruppen, der europäischen Partei "Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit" verantwortlich.
Eine Sammlungsbewegung dagegen hätte sogar Chancen, die größte Fraktion im Europäischen Parlament zu stellen. Die Stärkung euroskeptischer Parteien würde erheblichen Einfluss auf die Politikgestaltung in der EU in den nächsten fünf Jahren haben. Eine Übereinkunft von anti-europäischen und nationalistischen Parteien, um eine geeinte Bewegung im EP zu etablieren, wie sie etwa der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon und Matteo Salvini, Vorsitzender der italienischen Lega bewirbt, ist erstmal auf supranationaler Ebene nicht gegeben. Dennoch könnte durch die Stärkung ihrer Rolle in der nationalen Politik der einzelnen Mitgliedstaaten einen engeren Schulterschluss von populistischen Parteien, die Komplexität im EP erhöhen, Abstimmungen und Entscheidungsprozesse erschweren und so zu weiteren Spannungen und Streitigkeiten in einer zunehmend gespaltenen EU führen. Allerdings bleibt offen, ob und in welcher Konstellation sich die rechten und rechtspopulistischen Parteien des EU-skeptischen Spektrums im EP zusammenschließen und als handlungsfähige Akteur*innen vertreten sein werden.